8. Mai 2020: Eigentlich produziert der Metallverarbeiter Vielmetter in Berlin-Marienfelde pneumatische und hydraulische Systemkomponenten für die Nutzfahrzeug-Industrie. Schalt- und Regelventile, Hydraulikkomponenten oder E-Wasserpumpen für Motoren und Getriebe laufen hier täglich vom Band. Doch in Corona-Zeiten sind auch hier die Produktionskapazitäten nicht mehr voll ausgelastet. Zwar steht Vielmetter mit einer Produktionskapazität von gut 60 Prozent noch verhältnismäßig gut da, aber zu spüren ist die Krise für den Mittelständler deutlich. Doch Geschäftsführer Olaf Jelken ist erfinderisch. Sein Unternehmen produziert nun Gesichtsvisiere für Krankenhäuser, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Handel, Schulen und viele weitere Bereiche – dank 3D-Druck und pfiffiger Ingenieure.

Zustande kam das  Projekt eher zufällig. Die Frau eines Kollegen ist Allgemeinmedizinerin in einem kleinen medizinischen Versorgungszentrum. Hier fehlte es an Schutzausrüstung – vor allem am Mundschutz. Behelfsmäßig kamen Folien aus dem Baumarkt und Klebeband zum Einsatz. Das muss besser gehen, dachte sich die Allgemeinmedizinerin. Ihr Mann trug die Idee an Olaf Jelken heran, dessen Firma schon seit einigen Jahren mit 3D-Druck arbeitet.

Zusammen mit Ingenieur Thomas Jasny entwickelte Jelken ein Gesichtsvisier aus einem Stirnreif als Trägersystem und einer Folie als Spritzschutz. Die Funktionalität wurde gemeinsam mit den Ärztinnen und Ärzten aus dem Versorgungszentrum getestet. „Das wir so schnell ein praxistaugliches Produkt auf den Markt bringen konnten, liegt vor allem an den kurzen Wegen bei der Entwicklung. Wir haben kontinuierlich Feedback der anwendenden Ärzte bekommen und konnten das Produkt so optimal an die Bedürfnisse der Nutzer anpassen“, erzählt Jelken. „So konnten wir auf kurzem Weg schnelle Hilfe leisten.“

Denn was so einfach aussieht, birgt in der Entwicklung einige Tücken. So muss das Trägersystem eine entsprechende Flexibilität aufweisen, um sich an die unterschiedlichen Kopfformen anpassen zu können und auch bei langen Tragezeiten noch komfortabel zu sein. Zudem muss das Material eine gewisse Stabilität aufweisen, denn die Visiere sollen auch in Schulen zum Einsatz kommen. Hier ist besonders wichtig, dass Endstücke nicht scharfkantig abbrechen und das Trägersystem auch an den deutlich kleineren Köpfen gut sitzt. Und schließlich galt es, die Kosten im Blick zu behalten. Das Produkt musste schnell lieferbar sein und zu einem marktfähigen Preis produziert werden. Dem Team gelang es, die Druckzeit von anfangs 6 Stunden auf 1,5 Stunden zu reduzieren. Mehrere tausend Visiere können so monatlich gefertigt werden.

Von der Nachbarschaftshilfe zum Serienprodukt

Die  Mühe hat sich gelohnt. Nicht nur, dass Jelken dem Versorgungszentrum kurzfristig helfen konnte, heute bringt er mit der vierten Generation des Gesichtsvisiers bereits ein industriell gefertigtes Serienprodukt auf den Markt. Zwar laufen auch seine 3D-Drucker weiterhin auf Hochtouren, aber gemeinsam mit einem Brandenburger Partnerunternehmen können nun deutlich größere Mengen industriell gefertigt und vertrieben werden. „Auch nach der Corona-Krise wollen wir die Produktion der Gesichtsvisiere als weiteres Standbein etablieren“, so Jelkens Ziel. „Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und andere medizinische Einrichtungen haben einen stetigen Bedarf an Schutzmaterialien. Hier wollen wir mit Qualität „Made in Germany“ sowie kurzen Lieferzeiten und -wegen dauerhaft punkten.“

„Einfach mal machen“

Dass Jelken heute Gesichtsvisiere produzieren kann, wo anderen längst die Materialien ausgegangen sind, hat seinen Grund. Schon kurz nachdem die erste Produktidee im Raum stand, entschied sich Jelken dafür, die Lager mit den für die Produktion notwendigen Materialien, wie Filamenten und Folien, zu füllen. Bereits Anfang April, noch bevor die Corona-Krise ihren Höhepunkt erreicht hatte, konnte sich Jelken entsprechende Materialbestände am Markt sichern. Heute kann er innerhalb nur weniger Tage liefern – bei kleineren Liefermengen sogar noch am selben Tag.

Für den Unternehmer war das keine einfache Entscheidung, denn Vielmetter befindet sich in vorläufiger Insolvenz. Der Sanierungsprozess ist bereits im vollen Gange. Jelken sieht das aber auch als Vorteil: „Durch den laufenden Sanierungsprozess mit dem erfahrenen Sanierungsberater Rechtsanwalt Stefan Ludwig von Schultze & Braun haben wir bereits früh die richtigen Weichen gestellt, um gut durch die Krise zu kommen. So hat uns der Lockdown weniger hart getroffen als andere Automobilzulieferer. Wir waren mit unserer Stammbelegschaft durchgängig in zwei Schichten produktiv und sind heute – dank der wieder steigenden Nachfrage der asiatischen Märkte – recht gut aufgestellt.“

Neben dem Gesichtsvisier für den Einsatz im medizinischen Bereich entstand nun auch eine Variante für den Einsatz in Schulen.

Die Risikobereitschaft zahlt sich heute aus. Die Nachfragen nach den in Marienfelde produzierten Gesichtsvisieren stiegen so stark an, dass die Dynamik den erfahrenen Unternehmenslenker selbst überraschte. „Beim Aufbau dieses Geschäftszweiges war die kontinuierliche Lieferfähigkeit unser entscheidender Vorteil. Das konnten wir nur durch den frühzeitigen Ankauf der Materialien dauerhaft gewährleisten“, blickt Jelken zufrieden zurück. Damit Vielmetter mit dem neuen Produkt rechtzeitig auf den Markt gehen konnte, entschied sich Jelken gegen die Zertifizierung als Medizinprodukt. „Das hätte uns 6 Monate gekostet, aber die Schutzausrüstung wurde jetzt gebraucht“, erklärt er. Dennoch setzten sie bei der Produktentwicklung auf medizinische Expertise und holten sich Rat beim Landesamt für Arbeitsschutz ein.

Dank kluger Entscheidungen und dem richtigen Quäntchen Risikobereitschaft konnte Jelken zusammen mit seinem Team einen weiteren Geschäftszweig aufbauen, der auch nach der Krise Bestand haben wird. „Ohne diesen zusätzlichen Absatzmarkt wären wir nicht so gut durch den Lockdown gekommen“, ist sich Jelken sicher. Mit der vierten Generation des Gesichtsvisieres steigt das Unternehmen nun in die industrielle Produktion ein und kann so deutlich größere Mengen produzieren. Zudem ist eine kindgerechte Variante entstanden, die künftig auch Schülerinnen und Schülern Gesundheitsschutz im Klassenzimmer ermöglichen soll.

Für weitere Informationen: gesichtsvisier-vielmetter.de